Geschrieben von Nina Gorgus am 29. Oktober 2009 17:34
Helvetia Park heisst die Ausstellung, die zur Zeit im Musée d’Ethnographie in Neuchâtel zu sehen ist. Zu sehen ist eigentlich nicht der richtige Ausdruck, denn die Ausstellung ist im schönsten Sinne des Wortes interaktiv. Bei der Kasse erhält die Besucherin einen kleinen Stapel Münzen, die sinnigerweise Heidi heissen. Mit den Heidis ausgerüstet, begibt man sich in die Museumsräume und sieht sich als erstes einer Schießbude, einem Karussell und einem Autoscooter (ich kenne das unter dem Namen Boxauto) gegenüber. Helvetia Park ist eigentlich ein Jahrmarkt, mit Karussel, Geisterbahn und Wahrsagerin – aber um sich alles genau ansehen zu können, muss man Geld investieren – schon einmal eine erste Erkenntnis.
Es wäre aber nicht das Musée d’Ethnographie, das uns schon so lange und immer wieder mit außergwöhnlich innovativen Ausstellungen beglückt, sich mit einer massgetreuen Umsetzung eines Jahrmarktes im Museum zufrieden geben würde. Nein, die 11 Stände oder Module dienen natürlich als Metaphern und das bekommt man schnell mit.
Es geht in der Ausstellung um das Verständnis von Kultur in der Schweiz in den unterschiedlichsten Zusammenhängen, darum, wie Kultur funktioniert bzw. nicht funktioniert, um die Verflechtungen von Geld und Kultur, um Verständnis und um Mißverständnisse, um die Beziehung zwischen der sogenannten low und high culture.
Die Stände funktionieren nur auf den ersten Blick ähnlich wie auf dem Jahrmarkt – im Prinzip. Zum Beispiel der Autoscooter: dort möchte man natürlich sofort anfangen, die so hübsch gestylten Autos zu steuern – die kleinen Autos bewegen sich aber nicht so, wie man möchte, auch wenn man am Rand noch so sehr am Rad dreht. Sie drehen sich statt dessen nur autistisch um sich selbst oder in eine bestimmte Richtung. Culture Crash heisst hier das Schlagwort. Dazu möchte ich aus der Presseerklärung des Museums zitieren:
„Als Metapher der ganzen Ausstellung, die für eine dynamische und ständig neu entwickelte Konzeption der verschiedenen interagierenden Felder plädiert, spielt dieser Sektor mit einem Schema des Anthropologen James Clifford, das ganz bestimmte «Auffahrkollisionen», insbesondere zwischen den Welten der Kunst, der Folklore und der Ethnographie, bezeichnet. Aufgrund seines Designs und seiner Fahrweise verkörpert jedes Fahrzeug eine Facette dieses in ständiger Bewegung befindlichen Universums: das Modell «Folklore» ist langsam und schwerfällig, lässt sich aber nicht so leicht von seinem Kurs abbringen, das Modell «Gegenwartskunst» reagiert auf eine Vierteldrehung, ist aber stossempfindlicher, und das Modell «Ethno» bewegt sich ausschliesslich am Pistenrand.“
Nach diesem Prinzip sind die anderen Stände aufgebaut: der Ballwurfstand wird zum Battleground; mit Bällen kann man auf Sündenböcke zielen. Im Karussel fährt man eine Eternal Tour – und begegnet den mehr oder weniger traditionellen Festen in der Schweiz bzw. den Invention of Traditions.
Der Schießstand heisst hier Telldorado – es geht um die feinen Unterschiede und um Geschmack, herunter dekliniert anhand von den immer gleichen Gegenständen, die aber, genauer hingeschaut, doch sehr große Unterschiede aufweisen.
Im Abnormitätenkabinett trifft man in erster Linie auf merkwürdige Museumsobjekte; der Bogen spannt sich von einem Fetisch aus der Elfenbeinküste bis hin zum Hundespielzeug aus der Schweiz.
Wenn man schließlich noch bei der Wahrsagerin vorbeigeschaut hat, bei Madame Helvetia, die einen mit dem sogenannten Expertenwissen aller Couleur überhäuft, möchte man am liebsten nochmals eine Runde drehen – wenn das Heidi money nicht schon alle wäre.
Eine kluge Ausstellung, die aber nicht moralisch wird, sondern immer mit einem Augenzwinkern agiert. Eine Ausstellung, die wirklich Spaß macht, die einen teilweise Überwindung kostet – die Geisterbahn mochte ich noch nie, und auch diese hier hat es in sich. Eine Ausstellung, die mit der Entdeckerfreude der Besucherin spielt und die Erwartungen einfach hinterläuft – die aber immer etwas mit auf den Weg gibt. Eine Ausstellung, die man sich auf gar keinen Fall entgehen lassen sollte!
An Gelegenheiten wird es nicht mangeln: Helevtia-Park ist als dreisprachige Wanderausstellung konzipiert: Bis Mitte Mai ist sie in Neuchâtel zu sehen, danach geht die Ausstellung in der Schweiz auf die Tour. Nächster Ausstellungsort ist dann ab 18. Juni 2010 das Völkerkundemuseum in St. Gallen.
Die Ausstellung entstand im Rahmen des Programms Ménage – culture et politique à table“ der Schweizer Stiftung Pro Helvetia – auch diese Seite lohnt sich anzuschauen – einfach sehr gut und unterhaltsam gemacht. Hier kann man sich auch Presseunterlagen zur Ausstellung herunterladen.
Die schönen Fotos in diesem Beitrag stammen vom Museum.
Einen Ausstellungskatalog gibt es noch nicht, dafür das Heft aus der Reihe Texpo, das einen mit schönen Texten und Bildern auch noch zu Hause erfreut.